Skip Navigation
Flutnacht, Leseprobe aus "Bildungsfern"

Hi Leute,

die Community hier und die auf Reddit (irgendwie ist das für mich noch dasselbe) haben mich über das letzte Jahr ermutigt, einen kleinen Kurzroman zu schreiben.

Ich wollte euch eine kleine Leseprobe hier lassen. Wer mehr lesen möchte, kann mir einfach eine E-Mail schreiben und bekommt es umsonst, die Kindle- und Taschenbuchversion sind aber auch auf Amazon zu erhalten.

Wünsche frohes Lesen und danke nochmal für all die erbaulichen Kommentare! :) ____

Nach drei Tagen starken Regens war das Bächlein hinter meinem Haus zu einem richtigen Fluss geworden und am frühen Abend kam die Feuerwehr vorbei und warnte uns, dass wir unsere Autos etwas höher stellen sollten. Also stellte stellte ich mein Auto am Bahnhof des idyllischen Örtchens ab, überlegte kurz, ob ich einfach direkt zu meiner Freundin fahre, wer weiß ob ich morgen noch von hier zur Arbeit komme. Aber ich entschied mich, zu Hause zu bleiben. [...]

Ich gehe wieder rein, setze mich auf meinen Balkon, der Regen noch immer stark auf die Überdachung plätschernd, und sehe der Straße zu, wie sie sich langsam mit Wasser füllt. Ich nehme ein Video auf, teile es mit meinem Chef und sag ihm, dass ich morgen wohl Home Office machen muss. “Mach mal halblang” schreibt er nur, solange dem Auto nichts passiert könne ich ja ins Büro kommen, und in dem Moment wird ein Auto am Haus vorbei gespült, so tief ist schon das Wasser. Der Strom ist auch längst weg, und Internet haben wir nur noch sporadisch. Dann klopft es an meiner Tür, Herr und Frau K, ob ich runter in die Weinstube kommen könnte, um das Piano aufzubocken, vielleicht könne man es noch retten. Stiefel habe ich keine, aber es ist warm, und so stört es kaum, dass wir knietief im Wasser stehen, während wir versuchen, das massive Piano auf zwei Bastkörbe zu hieven.

Der Versuch dauert gefühlt ewig, das alte Klavier wiegt eine Tonne und die Körbe sind wackelig, kaum höher als der Wasserstand, und mir kommt die ganze Aktion sinnlos bis lebensgefährlich vor. Dann spült das Wasser die Fensterscheiben raus, und ein Auto, oder ein Öltank, irgendwas großes, wird mit einem lauten RUMMS außen vor die Wand geworfen. Mein Puls geht hoch, aber ich will mir nichts anmerken lassen. Frau K leuchtet uns weiter, der Bastkorb gibt nach, und ich sag “wir müssen hier raus, das bringt nichts”. Aber die beiden sehen so traurig aus und für einen Moment wird mir klar, dass sie gerade verlieren, was sie über ein halbes Jahrhundert aufgebaut haben. “Na gut, einen Versuch noch.” Vergebens.

Eine halbe Stunde später, wir stehen auf dem Balkon meiner Wohnung im ersten Stock, das Erdgeschoss geflutet, das Piano weg. Dann hören wir ein ängstliches Maunzen; auf einem Balken, der die Abdeckung des Balkons hält, sitzt ein dicker orangener Kater, völlig verängstigt, denn auch seine Welt geht gerade unter, und irgendwie schaffen wir es, ihn in meine Küche zu bekommen, in Sicherheit.

Irgendwann steht mir auch in meiner Wohnung das Wasser bis zum Knöchel, dann klopft es wieder, Frau P, aus dem Altbau, der eine Etage höher liegt, lädt mich ein. Ich setze meinen Rucksack auf, packe meine Gitarre, und gehe hoch. Es dämmert, und die Stromleitungen sind seit Stunden weg, aber oben, in Frau Ps Wohnung, brennen überall Kerzen und Teelichter. Dann sitzen wir am Küchentisch, lauschen der Flut, die ohrenbetäubend und nach Öl stinkend das Haus von allen Seiten verschlingt. Ich sehe einen abgedeckten Vogelkäfig und will kurz vorschlagen, den Vogel doch fliegen zu lassen. Dann wird mir klar, was das impliziert, nämlich dass das Haus bald nachgibt, und wir dann alle tot sind, aber immerhin lebt der Vogel.

[...] Frau K. ist bemüht die Stimmung aufzuhellen, und für eine Weile reden wir, damit niemand Zeit hat nachzudenken, dem Regen und der Flut lauschend, und immer wenn ein Öltank oder ein Baum oder ein Wohnwagen vom Wasser vor die Wände geworfen wird schweigen wir besonders laut, denn jeder denkt und niemand sagt, dass das Haus das nicht lange mitmacht.

Dann wird aus der Angst plötzlich Panik, das angrenzende Nachbarhaus stürzt ein, und mit ihm jede Hoffnung, dass wir einigermaßen sicher sind, und dann, meine Fresse, ein riesiger Riss in der Küchenwand, und plötzlich kann man rausgucken, in die Nacht. Runter, sofort. Die Frauen vorweg, wir direkt hinterher, durch den stockdunklen Hausflur, einfach runter. Unten bricht Herr K eine Tür ein, zur Wohnung unter uns, und der Horror ist vollständig, denn als sich die Tür öffnet offenbart sich, dass der Boden längst weggerissen ist, dass der ganze Altbau unterspült wurde, dass uns nur Sekunden bleiben, bis zwei Stockwerke aus Holz und Ziegeln über uns einstürzen. [...]

3
Neue "Abnehmspritze" mit Tirzepatid wirkt
  • bis ein Besserwissi erzählt, dass es mit FDH (oder was auch immer) und regelmäßigen Besuch im Fitti auch funktioniert.

    Also dass es keinen Körper geben kann, der funktioniert, ohne dass man Kalorien verbrennt, dürfte ja unstrittig sein. Also ist ja das Rezept "weniger Essen als man braucht" voll legitim und das wirst du auch nicht in Abrede stellen. Also ist Übergewicht ja zwangsläufig eine Verhaltenssache. Und Verhalten ändern ist halt schwer, besonders wenn es zwei Mega-Industrien (Pharma und "Lebensmittel") gibt, die besonders daran interessiert sind, dass wir unmündige Konsummaschinen bleiben.

    Wenn ich also eine Spritze nehme und plötzlich einen BMI von 20 habe, habe ich ja dennoch das gestörte Verhalten (zu viel Essen, zu wenig Bewegung) nicht geändert. Um die Industrien zu verbessern braucht es große, systemische Veränderungen, aber auf der Stufe des Individuums ist man besser dran beraten, die Ursachen der Fettheit zu bekämpfen. Dass das immer nur Völlerei und Faulheit sind will ich nicht sagen, sicher spielen Depressionen und Unzufriedenheit, ungesunde Coping-Mechanismen und Zuckersucht eine größere Rolle als viele glauben.

  • Saatgutfresser
  • Bodyshaming

    Das ist Kritik am Überkonsum. Bodyshaming wäre es, wenn ich mich über jemanden ob seiner Körpergröße oder ein körperlichen Behinderung / Entstellung lustig mache. Nicht wenn ich kritisiere, dass ein halber Supermarktparkplatz auf Grund von fast schon obszönen Überkonsums zu fett ist, um in die eigenen SUVs zu klettern.

  • Saatgutfresser
    unterschichtblog.de Saatgutfresser - unterschichtblog.de

    Das Rad bleibt heute stehen, ich fahre mit dem Auto. Einen echten Grund habe ich nicht, Faulheit eben. Dabei muss ich an eine Anekdote aus dem Geschichtsunterricht denken, von Bauern im Mittelalter, die im Winter das Saatgut für die nächste Aussaat aßen, und dann gab es natürlich keine Ernte mehr, u...

    Das Rad bleibt heute stehen, ich fahre mit dem Auto. Einen echten Grund habe ich nicht, Faulheit eben. Dabei muss ich an eine Anekdote aus dem Geschichtsunterricht denken, von Bauern im Mittelalter, die im Winter das Saatgut für die nächste Aussaat aßen, und dann gab es natürlich keine Ernte mehr, und dann verhungerten sie. Das sollte sicher eine Metapher sein, seid heute emsig und genügsam, dann wird’s morgen besser.

    Aber die war an meine Schulklasse, und besonders an mich, verloren.

    Auf dem Weg zur Arbeit halte ich noch kurz beim Supermarkt. Auf dem Parkplatz schieben fette Wänste Einkäufe in fette Autos, der Konsum von heute das Problem der Ärzte und Krankenpfleger von morgen, und ich dann dazwischen, mit einem Einkaufskorb voller als Lebensmittel getarnter Industrieabfälle, und die Hafermilch, ein Liter Ablassbrief. Ein fettnackiger Typ bleibt im riesigen Ford, während seine Frau einkauft, und weil es heute etwas wärmer ist, läuft der Motor die ganze Zeit, sicher für die Klimaanlage. Ich werfe noch einen traurigen Blick auf das riesige Auto und seine Fahrer, ein groteskes Mahnmal an den Überfluss und die Völlerei, zwei Tonnen Mensch und Stahl und Plastik, jede Meile ein Mittelfinger an die Nachwelt.

    Auf der Arbeit ist nicht viel los, aber dennoch schaffe ich es, einen unliebsamen Termin auf morgen zu schieben, ohne eine gute Ausrede zu haben, außer “fühl ich heut nicht so”, bin von mir selbst genervt, aber ändere nichts daran. Ein Tick und ein Tock und der Arbeitstag ist vorbei, gelernt hab ich nichts, geschafft auch nichts, geschaffen erst recht nicht.

    Dann sitze ich auch schon wieder im Auto und hasse mich dafür, nicht die Ausfahrt zum Fitnessstudio genommen zu haben, der Sportrucksack auf dem Beinfahrersitz erinnert an mein Versagen, und stehe an einer roten Ampel, zweite Ampelphase schon. Vor mir Autos, und hinter mir, und links und rechts neben mir, müssten die denn alle hier sein? Vermutlich nicht, aber ich ja auch nicht.

    Dann komme ich nach Hause, das Piano ignoriere ich, anstatt zu kochen werfe ich eine Pizza in den Ofen, mit Salami, das wollte ich ja eigentlich auch lassen, und anstatt noch was zu lernen setze ich mich an den Computer, auch intellektuell gibt es heute nur Fast Food.

    Irgendwann liege ich dann im Bett, dann rasen die Gedanken, der Puls geht hoch, die Panik setzt ein. Die Welt zieht weiter, aber ich stagniere, und so viele Menschen um mich herum auch, fressen das Saatgut mit ganz großen Löffeln, was mit uns passiert, scheiß drauf, und wer nach uns kommt, sowieso.

    Wieder nichts geschafft, wieder ein bisschen dümmer und schwächer und älter, wieder ein Stückchen Morgen für das Heute geopfert, und dabei nichtmal Spaß gehabt. Aber morgen mach ich’s besser. Diesmal bestimmt.

    20
    Maja
    unterschichtblog.de Maja - unterschichtblog.de

    An einem Abend im Herbst kam meine damalige Freundin, mit der ich mir eine kleine Wohnung mit Gartennutzung teilte, zu mir und bat mich, mit ihr nach Thüringen zu fahren, wo sie einen Hund kaufen würde. Ich vertraute ihr blind; was immer sie tat, tat sie überlegt und sorgfältig. Das, verbunden mit d...

    An einem Abend im Herbst kam meine damalige Freundin, mit der ich mir eine kleine Wohnung mit Gartennutzung teilte, zu mir und bat mich, mit ihr nach Thüringen zu fahren, wo sie einen Hund kaufen würde.

    Ich vertraute ihr blind; was immer sie tat, tat sie überlegt und sorgfältig. Das, verbunden mit dem Welpenbild, das sie mir zeigte, machte mir die Entscheidung leicht. Klar, sag ich, und am nächsten Morgen sitzen wir im Auto, sechs Stunden Autobahn vor uns, um Maja abzuholen.

    Maja, ihre beiden Geschwister und ihre Eltern begrüßen uns freudig am Tor, das sympathische Frauchen kommt direkt dazu und eine halbe Stunde später sitzen wir wieder im Auto, Maja auf einer kleinen Decke, eingerollt und ängstlich fiepend, weil sie ihr Rudel vermisst.

    Die nächsten Wochen (und eigentlich Jahre) ist sie Mittelpunkt unseres Lebens und wir tun alles, um ihr ein neues Rudel zu geben. Wir habens nicht weit zum Wald, gehen zwei Touren am Tag, und anfangs ist sie noch ängstlich und bleibt bei uns, aber bald schon wird Winter zu Frühling und sie wird selbstbewusst genug, dass sie eine Leine braucht. Einmal entwischt sie uns, sieht irgendwo ein Reh, und zischt ab. Tief in einem Wald in der Eifel, an einem viel zu heißen und trockenem Frühlingstag, und wir suchen und rufen eine gefühlte Ewigkeit, bis sie zurück kommt und sich völlig erschöpft neben uns auf dem Waldweg auf den Boden wirft. Sie trinkt ihren Wanderwassernapf zweimal leer, SCHLOPP-SCHLOPP-SCHLOPP, das beste Geräusch das ich kenne.

    Nach den Wanderungen liege ich immer mit meinem Laptop auf dem Sofa und arbeite, Maja in der Kuhle zwischen meinen Beinen, kaut genüsslich an einem Schweineohr oder schläft, ihre Schnauze auf meinem Bein, und ich weiß, dass ich alles für sie tun würde.

    Unsere Wohnung lag direkt neben meiner Arbeit, und zur jeder Mittagspause um zwölf, wenn die Glocken läuteten, lief ich rüber, um eine Runde mit ihr zu gehen. Manchmal war ich etwas zu früh dran, dann konnte ich sehen, wie pünktlich zum zweiten Glockenschlag ihr herrliches Gesicht am Fenster auftauchte, damit sie Ausschau nach mir halten konnte, und immer machte mein Herz einen Satz und immer musste ich mich beherrschen, nicht loszurennen um schneller bei ihr zu sein.

    Am Wochenende ist die Freundin dann meist bei ihren Eltern, für die Maja quasi das erste “Enkel” ist, und auch sie lieben und verwöhnen sie. Irgendwann kommen echte Enkel dazu und Maja findet in den Nichten und Neffen meiner Freundin neue Spielgefährten.

    Irgendwann kriselt es zwischen meiner Freundin und mir, ich ziehe an die Ahr, meine Freundin zu ihren Eltern, eine knappe Stunde entfernt von mir, und wir sehen uns fast nur noch am Wochenende, und immer wenn ich freitags komme, eskaliert Maja völlig, schießt wie eine Rakete von Raum zu Raum, oder übern Hof, und immer wieder zu mir, holt mir ein Leckerli oder einen Ball den ich werfen soll, und weicht für den Rest des Wochenendes nicht mehr von meiner Seite. Wenn ich dann gehe, am Sonntagabend, zeigt sie mir die kalte Schulter, und ich küsse ihr auf die Stirn und verspreche, dass ich bald wiederkomme.

    Sogar während meiner Nahtoderfahrung denke ich fast nur an sie. Einmal noch mit Maja ans Meer, wünsche ich mir nur, während um mich herum die Welt untergeht. Einmal noch mit Maja in den Wald. Bitte. “Küss Maja auf die Stirn von mir”, schreib ich meiner Freundin, bevor ich das Wasser sich mein Handy holt, aber die Nachricht geht nicht raus, und zwölf Stunden später hänge ich am Seil des Rettungshubschraubers und mir wird klar, dass mein Wunsch in Erfüllung geht. Nur zwei Wochen später sind wir in der Bretagne am Strand, und Maja schießt über den Sand und jagt ihren Ball, zeigt uns ganz aufgeregt eine Krabbe, vergisst immer wieder, dass das Wasser salzig ist und ich bin unendlich dankbar für jeden Tag und jeden Moment.

    Dann ziehe ich zu den beiden, meine Wohnung ist ja weg, und wir haben noch ein gutes Jahr zusammen, viele Ausflüge zu dritt, viel SCHLOPP-SCHLOPP-SCHLOPP an Sommertagen im Wald, aber ich merke immer mehr, dass meine Freundin eigene Kinder will, dass Maja und die Neffen und die Nichten die Lücke nicht mehr füllen können, und so trennen wir uns, und ziehe ich weiter gen Norden.

    Noch immer hat Maja ihr riesiges Rudel. Die große Familie meiner Ex, haufenweise Kinder jeden Alters, ihre Eltern und Geschwister, deren Partner, deren Kinder und Hunde und bald auch eine eigenes Baby; ich bin sicher Maja wird gut darauf aufpassen.

    Und wenn es mir schlecht geht, und ich traurig bin und sie vermisse, und wenn ich mir wünsche sie würd wieder in der Kuhle zwischen meinen Beinen schlafen, dann finde ich Trost darin, wie gut es ihr geht, auch ohne mich.

    3
    Die Gletscher sterben - wird der Rhein im Sommer austrocknen?
  • Kann mir jemand erklären, wieso folgender Mechanismus nicht greift?

    Früher dachte ich immer, dass bei schmelzenden Gletschern der Wasserspiegel steigt, also mehr Wasser verdunstet, was wiederum für mehr Wolken sorgt, was wiederum den Planeten kühlt. Was wir in den letzten Jahren festzustellen scheinen, ist dass die positiven Feedback-Loops voll reinballern, und die negativen Feedback-Loops, die das Ganze etwas abmildern könnten, dagegen kaum Wirkung zeigen.

  • unterschichtblog @feddit.de unterschichtblog @feddit.de
    Sergei gegen die Physik
    unterschichtblog.de Sergei gegen die Physik - unterschichtblog.de

    Wie Sergei bei der Jobcenter-Maßnahme gelandet war, konnte wohl niemand genau sagen. Seine Geschichte dazu, gleich Tolkiens Magnum Opus, „grew in the telling“. Zuerst erzählte er nur, er habe den Job als Komissionierer, gut bezahlt durch Nachtschichten und Wochenenden, gekündigt, weil er Vater wurde...

    Was haltet ihr von der neuen Seite? ___

    Wie Sergei bei der Jobcenter-Maßnahme gelandet war, konnte wohl niemand genau sagen.

    Seine Geschichte dazu, gleich Tolkiens Magnum Opus, „grew in the telling“. Zuerst erzählte er nur, er habe den Job als Komissionierer, gut bezahlt durch Nachtschichten und Wochenenden, gekündigt, weil er Vater wurde und mehr Zeit für die Erziehung haben wollte. Fragwürdige Entscheidung, glaubhafte Geschichte. Je nach Gemütszustand wurde seine Kündigung aber immer anders ausgeschmückt. Mal kündigten all seine Kollegen aus Solidarität, mal prügelte er sich mit dem Chef auf dem Parkplatz (oder, wenn er milde gestimmt war, wurden dem Chef nur Prügel angedroht), mal ging die Firma pleite und der Chef verkaufte einen seiner fünf Sportwagen, um wenigstens noch Sergei, dem besten Pferd im Stalle, schwarz ein dickes, letztes Gehalt zu zahlen.

    Wie auch immer Sergei beim Jobcenter gelandet war, seine Präsenz in der Maßnahme war eine Bereicherung. War Ronny, „der Professor“ noch der Einäugige unter den Blinden, war Sergei genauso dumm wie der Rest von uns. Nicht dümmer, aber definitiv nicht klüger. An einem Tag hatten wir das Modul „Englisch in der Informatik“, und es stellte sich als Fehler heraus, Sergei ein Wörterbuch zu geben. Welche Wörter wir denn schon kennen, fragte der Dozent, während Sergej wild blätterte, und dann ruft er rein „breast“ (und spricht es wie „beast“ aus), und kichert dann vor sich hin, bis er das nächste Wort findet, das er als reinrufenswürdig empfindet, „ass“, und kichert wieder, und der Dozent hasst wohl sein Leben.

    Weil wir die einzigen Nichtraucher waren, hing ich manchmal mit ihm in der Pause rum. Er verstand schnell, dass ich nicht allzu interessiert an seinen Erzählungen über sein neues Baby war, und so erfand er irgendwelche Heldentaten oder Abenteuer, die ihm passierten, meisten orientiert am Fernsehprogramm des letzten Tages. Einmal erzählte er mir, dass er als Jugendlicher deutscher Meister im Breakdancing wäre, und dass sein Tänzername „B-Boy Sergei“ gewesen wäre, eine Lüge die so random und übertrieben war, dass ich ihn einfach auslachen musste. Am nächsten Tag brachte er dann einen eingerahmten Zeitungsartikel mit, ja, so richtig im Bilderrahmen, und siehe da, da stand er, in einem Outfit straight aus 8-Mile, zwischen ein paar ähnlich gekleideten Buben, seinem Meisterschaftsteam im Breakdancing. Seltsam, denke ich, und frage mich, welche seiner Geschichten wohl noch wahr gewesen sind.

    In irgendeiner Pause hängen wir im heißen Schulungsraum rum, draußen sind hundert Grad und drinnen nur fünfzig, deswegen bleiben wir drinnen, und Sergei kommt rein, mit seiner Lederjacke, in den Händen eine Schüssel mit Milch, bis zum Rand gefüllt, sodass er sich nur mit Mikroschritten, jeder einzelne für das bloße Auge kaum wahrnehmbar, aber in Summe doch eine Vorwärtsbewegung ergebend, seinem Tisch nähern konnte. Der Dozent guckt nur fassungslos auf die Milchschüssel, dessen Inhalt nur durch Oberflächenspannung gehalten wird, aber nach quälenden Minuten hat die Schüssel wider jeder Erwartung den sicheren Tisch erreicht. „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ schreit der Dozent, aber Sergei kann ihn beruhigen. Er holt eine Packung JA! Choco Chips Frühstückscerealien raus, keine Sorge, die saugen die Milch schon auf.

    Es endet wie es enden muss, mit einem nassen, klebrigen Tisch, einem wütenden Dozenten, und einem verwirrten Sergei, der vorwurfsvoll auf die Cerealienpackung guckt, als fasse er die mangelnde Saugkraft der JA! Choco Chips als persönlichen Verrat auf.

    Drei Tage noch bin zum Ende der Maßnahme, drei Tage noch, drei Tage noch…

    8
    Haupt­schü­le­r:innen im Bundestag: Ständig lückenhafte Vertretung
  • Ähm, ist das nicht gut so?

    Ich sage das als jemand der fünf Jahre Hauptschule hinter sich hat, welche Attribute befähigen denn einen ehemaligen Hauptschüler besonders dazu, andere Hauptschüler zu vertreten?

    Das ist doch mal wieder so ein typischer TAZ / Sojasören Artikel. "Ich bin zwar was besseres, aber ich geb mir alle Mühe, mich nicht als was besseres zu fühlen."

    Ne danke, wählt lieber Leute die gut in der Schule waren.

  • Ankommen
  • Ist das Richtung Sparkasse?

    Ja genau. In dem Haus rechts von meinem war unten die Sparkasse. Davon erkannte man am nächsten Tag schon nichts mehr. Der Altbau ging bis vorne zur Straße (die halt auch weg ist) und unten war die Weinstube drin.

  • Ankommen
  • Für mich sind die Bilder von „danach“ bis heute vollkommen surreal.

    Super random, aber ich suche seit Ewigkeiten ein "vorher"-Bild von genau der Ecke. Die Nachher-Bilder die ich auch im Blog gepostet habe, bringen irgendwie nicht rüber, wie viel Glück ich hatte. Von den drei Häusern die da standen hat nur ein halbes die Nacht überstanden und zufällig waren wir gerade in der Hälfte, als der Altbau eingestürzt ist.

  • Ankommen

    Sommer 2019. Nach einer turbulenten Trennung und einem viel zu heißen Sommer zwischen Autos und Beton hatte ich genug vom Stadtleben und suchte mir eine günstige Wohnung in einem winzigen Weindorf gute fünfzig Kilometer von der Heimat entfernt.

    Die Besichtigung konnte ich mit einer langen Radtour zuerst den Rhein herauf verbinden, bis ich an ein kleines Flüsschen, das im trockenen Juni das Flussbett nicht füllen konnte, ankam. Dieses radelte ich weiter herauf und mit jedem kleinen Dorf wuchs meine Begeisterung. Alles war grün, der Radweg perfekt gepflegt, und das Tal, anfangs weit und offen, wurde stellenweise richtig eng, sodass man zwischen steilen Felswänden durch fährt. Die umliegenden Hügel, voller Weinreben, und weiter oben, Nadel- und Mischwälder.

    Dann, das Zieldorf. Der Radweg führt durch einen 235 Meter langen Tunnel unter einem riesigen Felsen und wilde Reben hängen bis kurz über Kopfhöhe über dem Weg. Der Tunnel ist schwach beleuchtet und rechts gehen abgesperrte Schächte tiefer in den Stein. Für einen Moment genieße ich die Kühle, dann verlasse ich den Tunnel und der Anblick nimmt mir die Luft. Ein alter Bahnhof, unten Sandstein und oben Fachwerk, links die Weinberge, rechts das Flüsslein, weiter rechts, mehr Weinberge. Das Dorf macht sofort einen Eindruck von Beständigkeit, davon, dass es über hundert Jahre entstanden ist und sich wohl auch die nächsten hundert Jahre nicht groß verändern wird.

    Das Haus liegt in einer engen Kurve in einer Straße die nach dem Rotwein benannt ist, der dort angebaut wird, über einer alten Weinstube, die nicht mehr betrieben, aber weiterhin liebevoll gepflegt wird. Im Fenster hängt noch ein Menü, darunter eine andächtige Nachricht, die sich bei den Gästen bedankt und schweren Herzens die Schließung der Weinstube ankündigt. Man sieht ein altes Klavier, das über Jahrzehnte die Gäste unterhielt, und Sitzmöbel, die gemütlich und urig aussahen.

    Tradition in jeder Fuge, und auch hier, Beständigkeit, Ruhe.

    Der Vermieter ist direkt sympathisch, spricht zuerst mit dem örtlichen Akzent aber wechselt alsbald zu Hochdeutsch, und gute fünfzehn Minuten vergehen, bevor ich überhaupt die Wohnung sehe. Er erzählt mir stolz die Geschichte des Hauses, das sein Vater im frühen 20. Jahrhundert gebaut hatte, wie der Neubau entstanden ist, wie der Altbau zur Weinstube umgewandelt wurde, die der Vermieter und seine Frau betrieben, und wie er selbst eine Schlosserei im Keller hatte. Aber nun waren auch die Vermieter alt, die Weinstube geschlossen, die Kinder weggezogen, die Schlosserei bloß noch ein Hobby in einer Werkstatt hinterm Haus, wenngleich mit viel Liebe betrieben.

    80 Jahre Geschichte, zehntausende Arbeitsstunden, und das Leben dreier Generationen und unzähliger Gäste in einem Haus.

    Die Wohnung war okay, ist hier nicht interessant, aber der Ausblick aus dem Fenster war unbeschreiblich. Direkt hinterm Haus, ein Walnussbaum. Uralt, und seine Äste voller fetter Früchte, wuchs er direkt aus dem Fluss, der gerade nur ein Bach war, aber dennoch hörbar vor sich hinplätscherte. Auf der anderen Flussseite, eine Felswand, relativ Steil und doch voll von Wein und mit einem alten Rebenaufzug. Und ganz oben auf dem Hügel, eine kleine Burg.

    “Wollense noch ‘ne Nacht drüber schlafen?” fragt mich der Vermieter, aber ich schlage direkt ein.

    Vor der Heimreise sitze ich noch ein wenig hinterm Haus am Bach, sauge die Ruhe und Beständigkeit ein wie ein Schwamm. Und während ich dem Plätschern der Ahr zuhöre, denke ich nur:

    “Ja, hier will ich bleiben”.

    ___

    Ein Abend, gute zwei Jahre später. Um acht reißt der Fluss die Fensterscheiben aus dem Erdgeschoss, die Weinstube, das Klavier, zerstört. Gegen neun wird das Dach der Werkstatt weggerissen, kurz darauf gibt auch der alte Walnussbaum nach. Meine Wohnung, im ersten Stock im Neubau, steht knietief unter Wasser. Der Altbau hält sich tapfer, noch so bis Mitternacht, dann stürzt auch er ein. Teile des Neubaus stehen noch bis zum nächsten Tag, sonst könnte ich das hier nicht schreiben.

    Heute ist da nur noch ein Schotterparkplatz.

    18
    unterschichtblog @feddit.de unterschichtblog @feddit.de
    Dani (Leseprobe)
    unterschichtblog.blogspot.com Dani (kurze Leseprobe)

    Stefan Stützes Leben in Deutschlands Unterschicht.

    „Ich mag deine Stimme!“

    Das war ihre erste Nachricht, und das Netteste, was ich in einer langen Zeit gehört hatte. „Und wenn wir schon dabei sind, ich mag es, wie du im Gildenchat schreibst!“

    Das war so 2008. Sie war in meiner WoW-Gilde und manchmal hörte man sie im Voice Chat als einziges Mädel unter 24 Jungs Taktiken erklären oder inkompetente Heiler zusammenstauchen.

    Sie war etwas jünger als ich, aber während ich beim REWE Kartons gefaltet oder in einem Lager Prospekte verschickt hatte, hatte sie ihr Abitur gemacht. Sie erzählte mir, dass sie unweit von mir in Bad Godesberg, damals für mich der Inbegriff einer noblen Gegend, wohnte, gerade ein FSJ plante und danach nach Zürich ziehen würde, um zu studieren. Irgendwas mit Robotern, oder KI oder so. Eine Lebenswelt, von der ich wenig verstand. Und irgendwann kam die gefürchtete Frage, was ich denn so mache, und mir fiel keine gute Antwort an, also blieb ich bei der Wahrheit. „Also gerade schaffe ich in einem Call Center, aber ich mache nebenbei den Real-Abschluss nach.“ Und ich war sicher, dass sie nun wegrennen würde.

    Aber sie rannte nicht weg: „Soll ich dich mal besuchen kommen?“

    Besuchen. In meiner Wohnung? Die gänzlich schmucklose Wohnung in der Kölner Platte, die weder ein Sofa, noch einen Fernseher hatte? In der es außer einer Hand voll Schulheften kein Buch gab, keine Pflanzen, einen Duschvorhang als Badezimmertür und nur eine weiß Gott wie alte Matratze als Bett? „Na gut“, schrieb ich, „aber ich befürchte du wirst dann wegrennen.“

    Aber sie rannte nicht weg. Wir saßen auf der Matratze und tranken Bier und redeten als hätten wir nicht in den jetzt Wochen jede freie Minute miteinander geplaudert und in tausend Fragen und Antworten und kleinen Pausen und Gesten und Blicken war nicht ein Hauch von Vorwurf, kein Anzeichen von Ekel, kein Hinweis darauf, dass sie mich auf Grund unserer unterschiedlichen Lebensumstände als niedriger betrachtete.

    In den nächsten Monaten merkte ich häufig, dass sie versuchte, mich zu fördern. Schon am Anfang brachte sie bei mir ihr Scrubs-Boxset unter und zwang mich, die Folgen mit ihr auf Englisch zu gucken. Anfangs noch mit Untertiteln, später ging es ohne. Und heute würde ich nie wieder eine Comedy übersetzt schauen.

    Wir wussten immer, dass unsere Zeit zusammen begrenzt war. Sie hatte ihren Studienplatz in Zürich, und ich hätte nie mit ihr mithalten können, selbst mit der größten Motivation, denn sie wuchs deutlich schneller als ich. Während ich nach der Arbeit binomische Formeln paukte und dem Wissen der achten Klasse hinterherrannte, bereitete sie sich auf ihr Studium und lernte die Art von Mathe, die ich auch heute nicht verstehen würde. Die Weichen waren gestellt.

    Bevor sie ging, schenkte sie mir ihren „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“, was zu einem meiner Lieblingsbücher werden sollte, und beim Lesen merkte ich, dass einige Vokabeln, nach denen ich sie beim Scrubs-Schauen gefragt hatte, markiert waren. Als hätte sie sich jede davon gemerkt und später im Buch gefunden.

    Mein Buch hat noch einige Seiten, und ich am liebsten würde ich die Überraschung verderben und sagen, dass Dani im dritten Drittel wieder auftaucht, dass wir uns wiederfinden, dass wir zusammen in einem kleinen Haus mit Garten und einem Hund an der See leben. Aber Dani ist jetzt Dr. Dani, und der Nachname ist anders, und sie lebt noch in der Schweiz, und ich glaube sie mag auch gar keine Hunde, aber getroffen habe ich sie seit unserer kurzen Begegnung nie wieder.

    0
    Anglizismen auf der Arbeit
  • Dailys

    Als ehemaliger WoW-Spieler hat mich nichts so vernichtend getriggert wie die "kreativen" Schreibweisen dieses Wortes. Ich glaube ich war nur eine Hand voll "daylies" von der völligen Eskalation entfernt.

  • unterschichtblog @feddit.de unterschichtblog @feddit.de
    Die Abendrealschule
    unterschichtblog.blogspot.com Unterschicht Blog

    Stefan Stützes Leben in Deutschlands Unterschicht.

    Weil am Sonntag eine Fortsetzung erscheint, hier ein alter Blogeintrag: ____

    5:30 Uhr, an einem Augusttag vor etwa zwölf Jahren.

    Der Wecker klingelt, aber ich bin längst wach. Konnte vor Aufregung kaum schlafen und fühle mich gerädert. Schlürfe einen Kaffee auf dem Balkon und schaue vom siebten Stock auf das Viertel runter. Es sind bereits über 20 Grad. Ich hasse den Sommer.

    Nach einer gründlichen Dusche radle ich los, 20 km den Rhein rauf. Die Arbeit geht ausnahmsweise viel zu schnell rum und mit jeder Minute, die ich mich dem Feierabend nähere, werde ich nervöser. Ich darf heute ´ne Stunde früher gehen, denn heute ist mein erster Tag an der Abendrealschule.

    Nach Feierabend schwinge ich mich wieder aufs Rad und komme nach einer halben Stunde im Höllentempo völlig verschwitzt an der Schule an. Ich bin zu früh, aber so kann ich noch einen Platz in der zweiten Reihe ergattern. Genau da wollte ich hin, das hatte ich auf dem Weg genau überlegt. Da bekommt man alles mit, aber falls nette Mädels in der Klasse sind, halten die mich nicht direkt für einen Streber - denn der würde schließlich in der ersten Reihe sitzen.

    18:30, Herr K. kommt. Unser Klassenlehrer. Dreißig Schülerinnen und Schüler sitzen an zwanzig Tischen. Es stinkt nach Schweiß und Deo, denn fast alle waren wir vorher arbeiten. Der Lehrer kommt rein, setzt sich wortlos ans Pult und schreibt erstmal etwas. Zum letzten Mal für die nächsten 18 Monate sind wir alle still, während wir auf den Anfang der Stunde warten.

    Irgendwann hebt ein junger Türke in der letzten Reihe seine Hand. „Ich hab kein Tisch“, sagt er. Der Lehrer guckt auf. „Kein Thema, in sechs Wochen sind zehn von Ihnen eh weg, dann ist mehr als genug Platz“. Er muss unsere kollektive Sorge wohl gesehen haben, denn sofort legt er, weit freundlicher, nach: „Ach, keine Sorge, wer so lange bleibt, zieht es dann meistens auch durch.“

    Sechs Wochen später. Wir sind nur noch zwanzig und jeder hat seinen eigenen Tisch. Die Tage fühlen sich unendlich lang an, aber wenigstens ist es nicht mehr so heiß. Die Klasse ist noch sehr motiviert, und den Vorbereitungskurs meistern wir alle erfolgreich. Manche Dinge muss der Lehrer zehnmal erklären, aber eine Sache verstehen wir alle, ausnahmslos, kennen wir auswendig: „Wer keine Fünf hat, darf weitermachen. Wer eine Fünf hat, kann die durch eine Drei ausgleichen. Wer zwei hat, muss gehen.“

    Niemand hat zwei Fünfen. Nach sechs Monaten sind wir alle, ganz offiziell, Realschüler. Ich habe Spaß an Englisch und Deutsch und wenn ich Mathe nicht verstehe, hilft mir meine Freundin. Womit ich die verdient habe, verstehe ich beim besten Willen nicht.

    Mein Chef unterstützt mich. Der hat mir überhaupt erst geraten, den Abschluss nachzumachen. Nach vielen Jahren prekärer Scheißjobs und sporadischer Arbeitslosigkeit hatte ich mir das überhaupt nicht zugetraut. Aber ich habe Glück. War es im Büro ruhig, schrieb er zwischendurch, dass ich das Telefon ausmachen und was für die Schule tun soll. Stand eine Klassenarbeit an, durfte ich früher Feierabend machen. Auch hier bin ich unsicher, womit ich das verdiene. Aber ich verstehe, dass das Glück nicht jeder hat und dass es ohne deutlich schwieriger wäre.

    Der Schulalltag war angenehmer als befürchtet. Ja, irgendwie waren wir alle Asis. Die meisten rauchten, fehlten häufiger mal, hatten nicht immer den nötigen Respekt vor den Lehrern. Jeder hatte so seine Macke. Schlechte Hygiene wurde mit zu viel Deo kompensiert und dass Chipstüten ein gänzlich ungeeigneter Snack für einen Klassenraum sind, haben viele auch nach der dritten Ermahnung nicht verstanden.

    Aber alle waren freiwillig da und alle hatten Verständnis, wenn mal jemand was nicht kapierte was für den Rest längst klar war. Wer jemanden auslachte, wurde kollektiv zusammengestaucht. Auch die Lehrer passten zu uns. Niemand war dort, weil sein Leben gradlinig und planmäßig verlief.

    Nach 18 Monaten hatten wir es geschafft. 20 von uns, Anfangs mit Hauptschulabschluss, oder gänzlich ohne, waren einen Schritt weiter im Leben, hatten neue Perspektiven und etwas Selbstbewusstsein und vielleicht sogar etwas Stolz.

    In unserem Englischbuch, ich sehe das junge Mädel auf dem Cover, das auf einem Surfbrett durch das „Internet surft“, noch vor meinen Augen, war ein Kapitel zum American Dream. Was denn der German Dream sei, fragte Herr K. uns als Denkansatz. „Hier kann man Scheiße bauen und auch mal faul sein und bekommt immer wieder zweite Chancen“, antwortete jemand.

    Und auch wenn das nicht immer stimmt und auch wenn leider noch so mancher Mensch durch’s Netz fällt, der vielleicht nicht das Glück hat, die richtige Freundin oder den richtigen Chef zu haben: dankbar bin ich für jede der hundert „zweiten“ Chancen, die ich im Leben bekommen habe.

    0
    ARD-DeutschlandTrend: AfD erreicht neuen Bestwert
  • Ich glaube das einzige was AfD-Wähler von der AfD abbringen kann, ist mal eine Legislaturperiode in der die AfD in der Regierung ist.

    Da wird dann eben schnell demaskiert, dass die Partei nur als Nörgelpartei funktioniert und außer fruchtlosem Kritteln nichts auf die Reihe bekommt. Die haben ja nicht mal positive Visionen, von der Kompetenz oder der Geduld diese in der Politik durchzusetzen mal ganz abgesehen.

  • Neue Community: "Labern"
    feddit.de labern - Feddit

    Für Menschen, die einfach labern wollen.

    Ich genieße die ultra-casual, minimal moderierte Atmosphäre auf einfach_posten und hätte gern einen Raum wie diesen hier auf Feddit.

    "Labern", um dumme Fragen zu stellen, über seinen Tag zu reden, sein Hobby zu präsentieren oder sich über die letzte Zugfahrt auszukotzen.

    Kein Meme-Dump (zwischendurch geht aber klar) und möglichst keine Politik-Posts (wenn Diskussionen politisch werden ist aber okay).

    Ich freue mich auf rege Teilnahme!

    2
    Rauchverbot im Auto zum Schutz von Kindern und Schwangeren geplant
  • JA BITTE. Ich hab so darunter gelitten, dass beide meine Eltern im Auto geraucht haben... Zudem war mein Vater eine absolute Pussy und konnte keinen "Zug" am Nacken ertragen, ich durfte also nichtmal mein Fenster öffnen. Pure Folter für Kinder.

    Selbst 25 Jahre später bin ich noch richtig überempfindlich was Zigarettenrauch angeht.

  • unterschichtblog.blogspot.com Pissdisking

    Stefan Stützes Leben in Deutschlands Unterschicht.

    Manche Fragen stellten sich fast jedem Teenager mal: wie geht es nach der Schule weiter, wie gefalle ich dem anderen Geschlecht, wie erzähle ich meinen Eltern von der schlechte Note?

    Andere Fragen stellten sich wohl nur mir: wie pisse ich Ingo Berg, genannt Ingeborg, in den Briefkasten?

    Die Idee ließ mich nicht los. Nachdem Ingeborg mir eine CD mit fürchterlichem Inhalt untergejubelt - und mich damit vor mindestens einem Elternteil fürchterlich blamiert hatte - wollte ich Rache.

    Ingeborg lebte mit seinem Bruder einer eigenen kleinen Wohnung im Souterrain im Haus der Eltern, mit eigenem Briefkasten, und Kevin hatte die Idee, dass wir Hundestuhl sammeln und beim ihm in den Briefkasten werfen könnten.

    Die Idee gefiel mir nicht. Erstens störte mich die Vorstellung, draußen rumzulaufen und Stuhl zu suchen. Das fand ich würdelos und nicht elegant. Außerdem verlangte die Ehre: wenn Exkremente in Ingos Briefkasten landen, so sollten es meine sein. Aber wie?

    So ging ich dann mal am Wochenende an Ingeborgs Haus vorbei, um die Lage zu checken. Diese war ernüchternd: der Briefkasten des kleinen Einfamilienhauses war deutlich außerhalb meiner Reichweite, und zudem von der Straße aus sehr sichtbar. Also zurück zu Kevin geradelt, der gerade mit seinem Cousin aus dem Ruhrpott Nintendo zockte, und das Problem beschrieben.

    Der Cousin, ohne zu zögern, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: "Ja dann musst du den halt pissplatteln." Was? "Ja pissplatteln. Also Pisse in einer Rohlingspindel einfrieren und die Pissplatte dann den Briefschlitz stecken."

    Es war so elegant. Es war so stilvoll. Es war, so darf ich heute sagen, fast schon nobel. Als würde ich ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. CD-förmige Rache. Gelbe, gefrorene Gerechtigkeit.

    Und wie es der Zufall will, hat Kevin in seiner Garage eine große Gefriertruhe, und so frieren wir unsere Pisse in zwei Spindeln von CD-Rohlingen ein. Kevin hat zwar keine Rachegelüste, aber wie ein Golden Retriever will er einfach dabei sein und mitmachen.

    So ziehen wir los, perfide Postboten der Pisse.

    Nach der Lieferung frag ich Kevin, wer seine Zustellung erhalten hat, und Kevin erklärt, dass er sich einen beliebigen Nachbarn ausgesucht hat, damit das Verbrechen willkürlich wirkt, damit niemand auf uns kommen kann. Ich halte die Logik für so wasserdicht wie die Deckel der CD-Spindeln, aber weil wir dumme Teenager sind, können wir es natürlich nicht bei unserem perfekten Verbrechen belassen.

    Stattdessen machen wir "Pissdisking" (denn wir sind cooler und moderner als die Ruhrpottkinder) zu einer Art Sport. Täglich landen irgendwo unsere Disks in irgendwelchen Briefkästen. Jede leichte Provokation wird mit einem nassen Briefkasten geahndet, und für jeden Racheakt kommen drei weitere, widerlich-willkürliche Zerstörungsakte hinzu.

    Dann flogen wir zu nah an die Sonne, Peekarus, sozusagen:

    Statt es einfach dabei zu belassen, gingen wir zu Ingo, um uns mehr leere Spindeln zu besorgen. Durch seinen Bruder hatte er davon haufenweise über. Die Dreistigkeit dieser Idee gefiel mir besonders und nach ein paar Wochen hatten wir zehn Spindeln zusammen. Um beim Verteilen der Pissdisks nicht aufzufallen, haben wir sie Prospekte gesteckt und sahen für Beobachter aus, wie Jungs die sich etwas Taschengeld dazu verdienen.

    Bis uns einer von Ingos Nachbarn, unser erstes willkürliches Opfer, bei frischer Tat ertappte.

    Prospekt in den Briefkasten, Tür geht auf, der Herr nimmt die Pissplatte direkt aus dem Briefkasten, sieht uns, wir rennen weg. Er erzählt die Geschichte rum, von den Jungs die CDs auf Pisse in Briefkästen verteilen, und irgendwie hört Ingo davon - und zählt natürlich eins und eins zusammen.

    Irgendwann radel ich dann nach der Schule nach Hause und Ingos Bruder fängt mich ab, verpasst mir die Prügel meines Lebens.

    Verdient? Ja, vermutlich.

    8
    unterschichtblog @feddit.de unterschichtblog @feddit.de
    unterschichtblog.blogspot.com Irgendwas stimmt mit Jochen nicht

    Stefan Stützes Leben in Deutschlands Unterschicht.

    Weil am Samstag Teil 2 rauskommt, jetzt auch hier Teil 1:

    ___

    Als Domis Roller eines Tages den Geist aufgab, hatten wir keine andere Wahl, als uns ausnahmsweise bei ihr zu treffen.

    Domi war meine erste Freundin. Eigentlich wollten ihre Eltern sie Dominique nennen, aber irgendwie konnten sie das nicht schreiben, also hieß sie Dominik. So richtig, auf ihrem Ausweis.

    Nun, nach einem Jahr Beziehung war es dann so weit, und ich habe sie das erste Mal zu Hause besucht. Sie lebte ländlich, die Familie bewohnte ein kleines, heruntergekommenes Haus. Domi, ihre Schwester, ihr kleiner Bruder Spike, ihr Stiefvater, nennen wir ihn Jochen, ihre Mutter, ein schwerst übergewichtiger Beagle und ein Haufen Katzen, die ständig ein und aus gingen.

    Schon im Hausflur stank es nach Zigaretten und wir mussten über haufenweise Schuhe, Gummistiefel, ein Dreirad und eine fehlende Treppenstufe klettern, um in ihre Wohnung zu kommen.

    In der großen Wohnküche standen zwei kleine Schreibtische mit Computern, Domis Mutter und Stiefvater je an einem davon. Wir sagen “Hallo”, die Eltern ignorieren uns fast gänzlich, die Rücken uns zugekehrt. Die Mutter in einem Chat-Raum, der Stiefvater ein Online-Kartenspiel spielend. Auf beiden Tischen stehen reihenweise Kaffeetassen, gefüllt mit Kippen, gerade genug Platz für Maus und Tastatur verbleiben.

    Ihr Kinderzimmer teilt sich Domi mit ihrer kleinen Schwester, die wohl unterwegs ist, und so haben wir zwei degenerierten Teenager das Zimmer für uns und es dauert keine Minute, bis Domi mich reitet. Ich merke dass sie abgelenkt ist und ihr Top nicht ausziehen will und ständig zur Tür guckt. “Was ist los?” frag ich. “Jochen hört immer wenn ich ficke und kommt dann zufällig rein”.

    Und siehe da, die Tür geht einen Spalt auf, und Jochen möchte wissen, wann es Mittag gibt. “Verpiss dich, Jochen” sagt Domi, ohne aufzuhören, mich zu reiten. Jochen lacht dreckig, und steckt den Kopf zur Türe rein. Verpiss dich, ruft Domi noch mal, und aus dem Wohnzimmer brüllt ihre Mutter, er solle uns doch mal in Ruhe lassen. Und wieder lacht Jochen dreckig, aber tatsächlich verschwindet er, ohne die Tür zu schließen.

    Irgendwann ruft Domis Mutter, dass Spikes Windeln gewechselt werden müssen, und wir unterbrechen den Akt. Domi geht ins Wohnzimmer, ich liege auf dem Bett und nur die Verheißung, dass wir später weitermachen, hält mich davon ab, sofort wegzurennen.

    Irgendwann stehe ich auf, gehe ins Wohnzimmer, setze mich an den Esstisch, habe das Gefühl das ist höflich. Domi spielt mit ihrem Bruder, der nicht, wie ich erwartet hatte, ein Säugling, sondern ein rundlicher Dreijähriger ist. Domi setzt sich zu mir, lehnt sich an mir an, sagt mir, dass sie uns Pizza bestellt hat. Jochen lacht, ist sich der Herr Prinz etwa zu fein, aus unserer Küche zu essen? Womit ich den Spitznamen verdient habe, verstehe ich zwar nicht, aber während ich in die Küche schaue, voll mit Katzenhaaren und Aschenbechern, ein offener gelber Sack mit Katzenstreu und Windeln auf der Arbeitsplatte, komme ich mir tatsächlich, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, zu fein für etwas vor.

    In dem Moment wusste ich meine Eltern zu schätzen, die zwar auch von Sozialhilfe und Hartz 4 lebten, aber einen sauberen Haushalt führten und nie auf die Idee kämen, meine Schwester oder mich beim Sex erwischen zu wollen. Wenn man die Erwartungen nur niedrig genug hält…

    Irgendwann kommen unsere Pizzen, Domi und ich essen am Küchentisch, Jochen kommt an und bedient sich an ihrer Pizza. Die Kippe in der linken Hand, die Pizza in der rechten. “Stefan versucht hier zu essen”, ermahnt ihn Domi. “Na und, das stört mich doch nicht beim Rauchen!”, sagt er, laut und widerlich lachend. Mir fallen seine fehlenden Eckzähne auf, und eine Fettwulst, die sich in seinem Nacken auftürmt, während er die Scheibe Pizza in sich verschwinden lässt. “Jochen, du bist ein Arschloch” sagt Domi. “Du sollst mich doch Papa nennen”, erwidert Jochen. Dann ruft er laut nach Spike, und statt dem Dreijährigen, der anteillos auf dem Boden sitzt und in ins Leere starrt, kommt der Beagle um die Ecke und bekommt eine Scheibe Pizza.

    Häh? Frage ich. Heißt der Hund etwa auch Spike? Domi wird rot, irgendwie scheint ihr in all dem Chaos und Elend DAS am peinlichsten zu sein. Ihre Mutter ruft, mit einem Akzent, von dem ich später lerne, dass er sächsisch ist, vom ihrem Schreibtisch auf: “Ja, aber der Hund war zuerst da.” Domi hat Tränen in den Augen. Ich frage nicht weiter.

    Nach dem Essen ziehen wir uns in ihr Zimmer zurück, ihre Schwester ist mittlerweile nach Hause gekommen, und so beherrschen wir uns und chatten mit Schulfreunden in ICQ, gucken uns den Fail Blog an, lachen über z0r und German Bash. Domis Schwester guckt und lacht mir, wirkt nett, aufgeweckt und erstaunlich normal.

    Irgendwann klopft es an der Tür, die Mutter ruft uns, wir sollen doch bitte in die Garage kommen, das neue Auto sei da. Ich weiß nicht worum es geht, und Domi erklärt mir, dass Jochen ein neues Auto bekommen habe, und wir uns das mit ihm ansehen müssen. Mir ist das Ganze zuwider, was interessiert mich das neue Auto dieses Spinners, aber gut, für Domi gehe ich mit runter.

    Und so stehen wir zu fünft um einen in die Jahre gekommenen, ranzigen kleinen Opel, in der halbdunkeln Garage, Jochen mit einer Tüte Chips, bestimmt zehn Minuten, und die Mutter sagt wir können ruhig Fragen zu dem Auto stellen, aber niemandem fallen Fragen ein, und Jochen platzt fast vor Stolz und Ehrfurcht, und ich bin verwirrt und versuche nicht zu lachen, und Domi wirft mir flehende Blicke zu, als befürchte sie, dass ich die Absurdität dieser Situation mit einem Lachen exponieren könnte, und Jochen schiebt sich faustweise Chips in den Rachen, das Auto umkreisend, als hätte er in seinem Leben kein solches Wunder gesehen. Weitere, quälende Minuten vergehen, dann setzt er Spike - das Kind, nicht den Hund - auf den Fahrersitz, und lacht, und nennt ihn den kleinen Rennfahrer, ganz der Papa eben, und ist dann eingeschnappt, dass sonst niemand lacht, außer Domis Mutter, der niemand die Echtheit ihres bemühten Gelächters abkauft.

    Irgendwann sitze ich auf dem Rad nach Hause, der Tag wirkt wie ein wirrer Fiebertraum, und ich lege mir schon Formulierungen zurecht, wie ich morgen Kevin davon berichten werde.

    Moment mal, denke ich mir. Jochen hört immer, wenn sie fickt?

    3
    unterschichtblog @feddit.de unterschichtblog @feddit.de
    Busfahrersohn
    unterschichtblog.blogspot.com Unterschicht Blog

    Stefan Stützes Leben in Deutschlands Unterschicht.

    Im Leben eines Kindes kommt irgendwann die Erkenntnis, dass die Eltern nicht allwissend sind.

    Mich hat diese Einsicht erwischt, als ich so fünf oder sechs Jahre alt war. Ich fuhr mit meinem Vater durch das Ruhrgebiet und - warum auch immer - mir stellte sich die Frage, wo eigentlich Wolken herkamen. Wie jede Frage, die nichts mit LKWs zu tun hatte, nervte sie meinen Vater, der eigentlich nie was wusste, das aber sicher.

    Seine Antwort: na aus den Kühltürmen, siehst du doch, und zeigte auf einen Kühlturm eines Kraftwerkes an dem wir vorbeifuhren. Und ich, der Sechsjährige, fand das für einen Moment plausibel, man sieht es ja, da kommen ja Wolken raus, und die gehen auch nach oben.

    Aber irgendwas störte mich an der Erklärung. Zu der Zeit war ich großer Fan von Dinosauriern, und ich hatte einige Dinobücher von Verwandten geschenkt bekommen. Und eins wusste ich sicher: zur Zeit der Dinos gab es noch keine Menschen, aber es gab schon Wolken.

    Als dann die Schule anfing, hatten wir solche Momente häufiger. Eine Rechenaufgabe, die ich nicht verstand? Frag deine Mutter. Ein schwieriges Wort in einem Text? Lass mich damit in Ruhe. Besonders gegenüber meiner neuen Leidenschaft, dem Lesen, war er sehr skeptisch. Alles was er nicht verstand war pauschal "schwul". Alles Sinnliche, oder Intellektuelle, oder Künstlerische. Einmal kam ich mit einer Notiz von Frau Bauer, meiner Klassenlehrerin, nach Hause. In meinem Schreibheft, ein glitzernder Sternsticker, daneben der Satz: "Prima, Stefan, du hast heute sehr gut vorgelesen!"

    Aber anstatt Lob zu kassieren, und vielleicht ein "weiter so", oder ein "was hast du denn vorgelesen?" kam nur die Anmerkung, dass ich ja auch eine Schwuhctel sei, und überhaupt, warum lernt man denn nicht mal was richtiges in der Schule? Beim nächsten Vorlesen war ich dann zögerlicher.

    Dass seine Kinder kein Interesse an seinem Hobby zeigten, nervte ihn tierisch. Manchmal versuchte er, uns in seinem Hobbyraum, der eigentlich ein Kinderzimmer sein sollte, sein fürchterliches Hobby nahezubringen: Modell-LKW lackieren und in Vitrinen ausstellen. Wir hassten das Hobby. Natürlich fanden wir es zutiefst langweilig und stupide, aber mehr noch nervte es uns, dass wir uns ein Zimmer teilen musste, damit die "Modell-KWs" ihr eigenes Zimmer haben konnte.

    Irgendwann sah ich ihn über einem Brief vom Sozialamt brüten. Das war nachdem er seinen Job verloren hatte und ich schon fast mit der Grundschule durch war. Und wie ich ihn da sitzen sah, mühsam Wort für Wort lesend, und die Lippen bewegend, zurück zu Satzanfängen springend, weil er den Faden verloren hatte, tat er mir irgendwie leid. Dann bemerkte er mich, fühlte sich ertappt, schrie irgendeine verletzende Obszönität, drohte mit Gewalt wenn ich nicht verschwände, und alles Mitleid war vergessen.

    Einmal, in den Sommerferien, durften meine Schwester und ich in ein Ferienlager fahren; die lokale evangelische Kirche hatte Unterschichtskindern einen Zuschuss gezahlt. Meine Schwester fand sofort Anschluss bei den größeren Kindern, aber ich hatte es schwerer. Die anderen Kindern, meist junge Teenager, hatten ein gutes Gespür dafür, wer die Bezuschussten waren und die freiwilligen Betreuer halfen auch nicht gerade. Irgendwann gab es eine Vorstellungsrunde, und der kleine Stütze wurde natürlich gefragt, was sein Vater beruflich macht. Oh Gott. Jede Frage, nur nicht diese. Die Wahrheit war keine Option, zu sehr schämte ich mich für den kleingeistigen Vater, der nichts als seine LKW kannte, dessen liebe für seine "Brummis" tief in die Freizeit reinragte. Der keine Neugier besaß, und keine Ambitionen, bequem und fett und fies.

    Also musste eine Lüge her. Arzt, oder Zoodirektor, oder Buchhalter, alles was nobler, oder interessanter, oder wenigstens besser bezahlt wäre. Doch kein Beruf fällt mir ein, und ich haue raus: "Busfahrer"

    Vereinzeltes Kichern, ich werde rot. Ich sehe mich flehentlich nach meiner Schwester um, die so tut als kenne sie mich nicht, und irgendjemand brüllt "Busfahrersohn!", schallendes Gelächter und ich habe einen Spitznamen für den Rest des Ferienlagers. Nach zwei Wochen, vielleicht warens auch vier, holt Mutter uns am Pfarrhaus ab. Meine Schwester küsst ihren neuen Freund energisch und mit Zunge zum Abschied und irgendein Kind ruft "Schönen Urlaub noch, Busfahrersohn" zu mir. Mutter registriert beides nicht, und wir fahren zurück in die Platte. Arbeitet Vater heute, frage ich, und halte bis zur Antwort die Luft an.

    mehr Unfug:

    0
    unterschichtblog @feddit.de unterschichtblog @feddit.de
    Der Sub-Sub-Subunternehmer
    unterschichtblog.blogspot.com Unterschicht Blog

    Stefan Stützes Leben in Deutschlands Unterschicht.

    Kennt ihr diese Jobs, die nur existieren, um irgendeine alberne gesetzliche Anforderung zu erfüllen?

    So eine Stelle hatte ich 2013-2014. Ein typischer Arbeitstag sah etwa so aus:

    Abends ruft mich die Dispatcherin an, "kannst du morgen nach Nürnberg fahren?"

    Okay, sag ich, und bete, dass es kein Druckerumzug ist. "Ist ein Druckerumzug, bitte den Kollegen in Karlsruhe abholen."

    Also gehe ich am nächsten Morgen zu Sixt, Mietwagen steht bereit, ab jetzt "verdiene" ich Geld.

    Fahre also nach Karlsruhe. Da hole ich den Kollegen ab, ein Kettenraucher Namens Sergejy oder Ivgeniy Prktologowyzc.

    Zusammen fahren wir dann von Karlsruhe nach Nürnberg zu einer Liegenschaft der Bundeswehr. Die haben einen IT-Dienstleister, damals die BWI, heute keine Ahnung, die wiederum einen Logistiker haben, der wiederum einen Personaldienstleister hat.

    Für die letzte Firma in der Kette (die auf "Consulting" endet, falls hier ein früherer Kollege mitliest) arbeitete ich, und verdiente 8,25 € die Stunde. Verkauft wurde ich als "IT Systemtechniker" oder was auch immer, für 39 € die Stunde. Die Verträge waren auf Tagesbasis, also für jeden Auftrag musste ich einen neuen Vertrag unterschreiben.

    Ein guter Tag lief so: zu Sixt radeln, manchmal zu Enterprise, Auto mieten, von HD nach Koblenz oder Bonn, einmal sogar nach Hamburg, in einer Liegenschaft Maus und Tastatur oder ein HDMI-Kabel austauschen, und wieder fünf Stunden nach Hause fahren. Da schätzt man sein Tageswerk: den Steuerzahler 250+ € kosten, dabei selbst kaum Kohle kriegen, und effektiv vielleicht zehn Minuten arbeiten.

    Dieser Tag war einer der nicht so guten. Druckerumzüge durften wir nicht allein machen, und wo soll man in einer Kaserne auch schon jemanden zum Anpacken finden, also durften wir zu zweit durch die Republik fahren, einen Netzwerkdrucker abbauen (Ethernet- und Stromkabel ziehen), irgendwo anders wieder aufbauen (Ethernet- und Stromkabel einstecken). Im schlimmsten Fall drei Räume weiter auf demselben Flur. Hab ich erwähnt, dass die Teile Rollen haben?

    Egal, also ich fahre mit irgendeinem Alkoholiker und Kettenraucher, der keinen Führerschein mehr hat, nach Bayern. Ständig schreit er rum, weil jemand auf der Autobahn nicht schnell genug, oder zu schnell fährt, raucht eine Kippe nach der anderen, ignoriert, wenn ich ihm sage er soll das lassen, schlägt plötzlich aufs Amaturenbrett, weil er wohl auf dem Handy was sieht, was ihm nicht passt.

    Vielleicht nicht ganz zufällig, war das die Zeit, zu der ich anfing, jede Ausgabe in Arbeitsstunden umzurechnen. Warmmiete? 42 Stunden. Wocheneinkauf? Fünf Stunden. Der Unterschied zwischen Raststättenkaffee und selbstgekochtem Instant? Acht Minuten Autofahrt neben Krawczyk, dem kettenrauchenden Choleriker.

    Wir kommen an, Druckerumzug dauert 15 Minuten, runden wir auf eine Stunde auf. Macht den Kohl auch nicht mehr fett, mittlerweile wurden bestimmt schon 10 Arbeitsstunden berechnet. Sorry, Steuerzahler.

    Dispatch ruft an: "Wo ihr schonmal in Bayern seid, könnt ihr morgen nach Stetten fahren? Da ist ein Rollout, die brauchen noch Leute."

    Also gut, auf gen Stetten, übrigens in BaWü, nicht in Bayern, aber weil der Tag fast vorbei ist, fahren wir erstmal in Augsburgs widerlichstes Hostel, wo für uns zwei Betten in einem Viiiielbettzimmer gebucht wurden. Das macht übrigens der Logistiker, nicht der Personaler, und vermietet die Plätze dann an den Personaler weiter. Sicher nicht ohne deftigen Aufschlag.

    Aber egal, ich denke an die üppigen Stunden am nächsten Tag, an die 15 € Verpflegungsgeld, die bei jeder Übernachtung fällig werden. Mentale Buchführung: fünf Stunden noch, bis ich die Miete für nächsten Monat zahlen kann. Dann nochmal zwölf für die Verpflegung, und nochmal zwei oder drei für ein schönes Date mit der dickbusigen Svenja.

    Rechnet noch jemand mit, wie viel der Ausflug den Steuerzahler bisher kostet?

    Nächster Morgen, Mojciech hatte wohl eine schlechte Nacht, flippt beim Fahren mehrfach völlig aus. Wirft irgendwann wütend sein Handy auf die Rückbank. Ich fahre ihm nicht schnell genug, er ist zu dumm zu verstehen dass wir für die Fahrzeit genauso bezahlt werden wie für den Rollout, also greift er irgendwann ins Lenkrad, um mich auf die linke Spur zu bugsieren.

    So nicht du Spacko, denk ich mir und fahre die nächste Raststätte an. "Du trinkst jetzt erstmal nen Kaffee, bist ja kaum auszuhalten", sag ich zu ihm. Polatzki steigt aus um sich einen Kaffee zu holen, lässt das Handy im Wagen. Er geht rein, ich fahre weiter, zurück auf die Autobahn, und dort auf den nächsten Parkplatz.

    Ja hallo Dispatch, ich warte jetzt seit über 'ner Stunde auf den Kollegen. Der wollte kurz zum Lidl um sich Schnapps zu holen. Jetzt ist er verschwunden. Ne ich erreiche ihn nicht. Ja der geht nicht ans Handy. Ja seit 'ner Stunde schon, ich muss jetzt echt zum Rollout.

    "Ja dann fahr schonmal los, wir versuchen ihn zu erreichen." Viel Glück, denk ich mir, und werfe sein Nokia in einen Raststättenmülleimer.

    Beim Rollout bauen wir dann PCs auf, legen Kabel, schließen Telefone an etc. Mal zu dritt, mal zu zehnt, mal dauerts zwei Tage, mal 'ne Woche. Immer gemütlich, denn jeder braucht die Stunden, und von oben kommt kein Druck, weil unser Boss, und sein Boss, und sein Boss, an jeder Stunde gut verdienen.

    Wem das Geld nicht reichte, der durfte entweder hoffen, zufällig an dem Tag "Teamleiter" zu sein und 50 Cent pro Stunde mehr zu verdienen (besonders geil bei Aufträgen zu zweit, bei denen dann der Geringverdiener den anderen automatisch hasste).

    Oder er machte es wie die älteren Kollegen und holt sich die Festplatten und Arbeitsspeicher aus den zu entsorgenden Alt-PCs. Gerade bei den HDDs aus Bundeswehrrechnern natürlich eine tolle Idee...

    Der ganze Job existierte nur, weil die Soldaten nicht ihre eigene Hardware austauschen durften, nichtmal Peripherie, irgendwas mit Versicherung.

    Egal, am Ende zahlt es eh der Steuerzahler. Also ihr. Und ich brauchte die Schichten. Danke auch.

    3
    Der sinnlose Computerkurs des Jobcenters

    Ein Sommer, etwa 2009. Nach zwei kurzfristigen Beschäftigungen beziehe ich wieder Hartz 4 und bin abhängig vom Jobcenter.

    "Ach Mensch, Sie sind ja noch jung, machen Sie doch einen Computerkurs!", sagt die überdurchschnittlich bemühte Jobcenter-Mitarbeiterin zu mir.

    Ich freue mich über die Gelegenheit, frage mich aber, ob es wirklich in ganz Köln kein ähnliches Kursangebot gibt, und so fahre ich - bezahlt vom Jobcenter - 40 km pro Strecke Zug.

    Die Erwartungen wurden klar an mich kommuniziert: sechs Wochen, acht Stunden am Tag, maximal ein Fehltag, am Ende gibt es eine Prüfung. Bei Bestehen gibt es ein Zertifikat. Dieses, so meine Bearbeiterin, könne mir helfen, eine Berufsausbildung zu finden. Spoiler: konnte es nicht.

    So sitze ich frohen Mutes im Zug, trotz der infernalischen Hitze und studiere den Stundenplan: Die erste Woche befasst sich mit Word. Okay. Woche zwei betrifft Excel. Das könnte interessant werden. Dritte Woche: Computer. Okay, was auch immer das heißt. Und so weiter.

    Vor der Bildungseinrichtung, die an einer vielbefahrenen Kreuzung in Bahnhofsnähe liegt, pellt sich ein Ungetüm aus Fleisch aus einem winzigen Peugeot 106. Der Mann, zwei Meter groß und mindestens zweihundert Kilo, müht sich keuchend aus seinem Auto und ist Sekunden später von dicken Zuckerwattewolken aus seinem Vaporizer umgeben. Ich nicke ihm zu, während ich an ihm vorbei die Schule betrete. Der Klassenraum ist auf einem kleinen Lageplan, den mir das Jobcenter mitgegeben hat, eingezeichnet.

    Ich setze mich in die zweite Reihe, da sitze ich am liebsten. Der Fleischkoloss von vor der Tür kommt in die Klasse und setzt sich direkt vor mich. Sein Maurerausschnitt ist so lang wie mein Unterarm und sein Gestank unerträglich.

    Der Dozent kommt rein, stellt sich vor, wir starten eine Vorstellungsrunde. Ich lerne, dass der Zuckerwattewolkenmann Ronny heißt und den Kurs zum dritten Mal besucht. Er hat sechs Kinder und beim den ersten Versuch war eines krank, beim zweiten hat er die Prüfung nicht geschafft. Der Rest der Klasse ist wie ich: orientierungslose Mittzwanziger am Rande der Gesellschaft, die wider jeder Vernunft etwas Hoffnung in der Maßnahme sehen.

    Der Dozent macht uns Mut, sagt er habe den Kurs selbst mal absolviert, also wisse man ja nie. Dass er einen BA in Wirtschaftsinformatik hat und den Kurs mitgestaltet hat, verschweigt er erstmal.

    Wir versuchen, auf den uralten ThinkPads dem Unterricht zu folgen, aber die Bildschirme sind nicht hell genug und es ist schwierig, irgendwas zu erkennen. Dennoch kennen wir nach einer Woche so etwa die Basics von Word.

    Die nächste Woche, der Dozent ist krank. Spontan ziehen wir das Modul "Computer" vor. Der Vertretungslehrer muss seine Aufmerksamkeit zwischen drei Klassen aufteilen, kommt rein, gibt uns den Stundenplan für die Woche. Dieser bringt mich noch heute zum Lachen:

    1. Montag - Betriebssysteme
    2. Dienstag - Computerhardware und Elektrotechnik
    3. Mittwoch - vernetzte IT-Systeme (LAN, WLAN)
    4. Donnerstag - Programmierung in Java
    5. Freitag - Wiederholung und Modulprüfung

    Na gut, das wird ja eine interessante Woche. "Die Laptops braucht ihr diese Woche nicht", sagt er. Wir bekommen einen kurzen Text zu Betriebssystemen. In zwei Absätzen wird erklärt, was Windows und was OSX ist. Ronny dreht sich um und erklärt uns, dass wir den zweiten Absatz ignorieren können, denn in der Prüfung kommt nur Windows dran.

    Recht hat er, in der Prüfung wird es nur eine Frage zu Betriebssystemen geben: "Welches ist ein Betriebssystem? Windows, Word, HTML, oder WLAN?"

    Die restlichen Tage gehen wir mit ähnlicher Tiefe an. Kurze Texte, die mit maximal zwei Fragen in der "Modulprüfung" abgefragt werden. Fast acht Stunden Langeweile am Tag, der Dozent weit und breit nicht zu sehen. Die anderen Teilnehmer sind klüger als ich, tragen sich morgens in die Liste ein und hauen nach Ausgabe der Texte ab. Ronny und ich sind bemüht und bleiben. Ich komme mir wie ein Vollidiot vor.

    Freitags kommt die Prüfung (90 Minuten für 10 Multiple Choice Fragen). Ohne Aufsicht. Kurz vor Feierabend, der Lehrer kommt kurz rein, teilt uns das Ergebnis mit. Alle haben bestanden, niemand freut sich.

    Die Lernmittel sind unter aller Sau. Es gibt nur 40 Laptops für 3x20 Schüler, weil man eben mit hoher Abwesenheit rechnet. Hilft aber in der erste Woche nicht, wenn die Anwesenheit noch gut ist. Die Unterrichtsräume sind eine reine Zumutung, viel zu eng besetzt, nie im Leben konform mit Brandschutz. Unser Klassenraum ist direkt neben der einzigen Toilette, und so dürfen wir, 2-3 mal täglich, Ronny zuhören, der laut stöhnend schmerzhafte Arschentbindungen durchleben muss.

    Die nächste Woche. Excel. Oder Powerpoint, keine Ahnung mehr. Nur noch zwei Drittel der Klasse sind erschienen, ich freue mich, denn so ist die Luft nicht mehr ganz so stickig und nicht mehr ganz so voll mit Scheißepartikeln, Deo und Zigarettengestank. Der Dozent der ersten Woche ist wieder da, aber auch er muss seine Zeit zwischen drei Gruppen aufteilen. Wenigstens gehen die Office-Kurse etwas in die Tiefe, und wenigstens haben wir für diese Laptops. Yay.

    Ronny hat sich mittlerweile den Spitznamen "der Professor" verdient. Der Einäugige unter den Blinden. Während der Rest mit Summenformeln überfordert ist, unterhält er sich mit dem Dozenten über Pivot Tabellen und VBA. Wenn wir dumme Fragen stellen, erklärt er uns das Zeug geduldig. Mir wird klar, dass ich ihn den Kerl zu sehr verurteile und ich überlege, wie mein Leben wohl aussähe, wenn ich mich auch um sechs Kinder kümmern müsste.

    Nach sechs Wochen gibt es eine Abschlussprüfung. Etwas Office, ein paar Fragen zu Mäusen und Tastaturen und 1:1 dieselben Fragen aus der "Computer"-Woche. Die Auswertung dauert etwa eine Woche, dann bekommen wir das Zertifikat.

    Zum letzten Mal sitze ich im Zug nach Hause und reflektiere. Wieder sechs Wochen verschwendet, denke ich mir. Kein echter Erfahrungsgewinn, den Steuerzahler wieder um hunderte Euros beraubt, und auch das Zertifikat, das mir "Fortgeschrittene Kenntnisse in IT, Programmierung und MS Office" bescheinigt, wird bei Bewerbungen so nutzlos sein, wie ich mich fühle.

    57
    Baustoffe Gernhardt Reinholtz GmbH
    unterschichtblog.blogspot.com Unterschicht Blog

    Stefan Stützes Leben in Deutschlands Unterschicht.

    Laut DE-Mod soll ich das hier posten ____ Die Stellenanzeige sprach mich direkt an:

    “Keine Kenntnisse oder handwerkliches Geschick benötigt, etwas Deutsch wäre gut.”

    Bewerbung lief übers Telefon und war auch keine große Hürde, können Sie sechs Stunden am Stück stehen, bissl mit anpacken? Ja okay, welche Größe brauchen Sie? Na gut, wir sind hier per du, komm mal am Samstag um halb sieben vorbei.

    Und so gehe ich zur Baustoffe Gernhardt Reinholz GmbH, bezahltes Probearbeiten, 8,13 € die Stunde, quasi nichts und dennoch mein höchster Verdienst in den letzten zwei Jahren. Um mich herum, Polen, Studenten, Lagerhelfer. Jeder raucht, manch einer, so vermute ich, hat Schnaps in der Kaffeekanne. Der einzig ausgebildete Lagerist, Udo, gibt den Ton an.

    Es gibt nur eine Regel, sagt er, und erklärt uns zwei Regeln: Wenn ich auf dem Bock sitze, will ich Ruhe im Puff. Und wenn ich Frauen hier hab, sagt denen nix von anderen Frauen. Als einziger grinse ich dämlich, denke er macht Witze. Aber er, Mittvierziger mit halb leerer Kauleiste, guckt mich nur ernst an. Später sagt einer der polnischen Kollegen zu mir: “Man glaubt es nicht, aber was der Typ wegnagelt ist unglaublich. Jede Woche ‘ne neue Perle.”

    Der Job war voll in Ordnung. Wir mussten LKWs und Sprinter ein- und ausräumen, viel mit Sack- und Schubkarren bewegen, und wenn es richtig schwer wurde, kam Udo auf seinem Bock. Wenn er nicht gerade Paletten oder Frauen aufgabelte, machte er die Schichtpläne, und weil er ein guter Kollege war, und der Rest von uns arme Schlucker, waren die Schichten immer überbesetzt. So saßen immer ein Drittel der Arbeiter irgendwo rum und unterhielten sich, häufig über Udos letzte Eroberungen. Was diese anging schien er nicht wählerisch zu sein. Ständig kamen ihn neue Frauen besuchen.

    Teilweise fitte Studentinnen die halb so alt waren wie er, teilweise gewaltige Buttergolems die nach dreißig Jahren Hartz 4 aussahen. Teilweise brachten sie ihm Mittagessen oder Kuchen, und für jede Frau die ihm in seinem Büro besucht erzählte er uns von drei anderen, die er in seiner Freizeit traf. Einmal berichtete er von einem Wochenende, an dem er Samstags “eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern in drei verschiedenen Brauntönen” traf und Sonntags noch zu einer Prostituierten ging; der Hunger des Flurförderfickers war unstillbar.

    Während ich Schrauben sortierte oder Paletten belud dachte ich über den Erfolg des mysteriösen Mösenmörders nach. Was macht ihn, einen dicken Dauerraucher, die besten Jahre längst hinter sich, kaum noch Haare und nicht sonderlich groß, für die Damenwelt so anziehend? Irgendwann endete auch der Job, mein Vertrag wurde nicht verlängert, denn sonst hätte man mir 9 € zahlen müssen, also verließ ich das Lager schweren Herzens.

    Gut zehn Jahre später und Udo längst vergessen endet für mich eine erfolglose Tinder-Beziehung. Woran hattet jelegen, frag ich, und die Frau erklärt mir, dass mein langweiliger Bürojob ihr immer ein Dorn im Auge gewesen sei. Ihr letzter Freund, Tierarztstudent, ihr neuer Freund, Staplerfahrer. Ein echter Männerjob eben, harte körperliche Arbeit, handwerkliches Geschick und gutes Gehalt, sagt sie. Ich will ihr in allen Punkten widersprechen, bin verwirrt und komme zu dem Schluss, dass man als Mann im Berufsleben eine Wahl zu treffen hat:

    Mach den Staplerschein, oder sei für immer Mann zweiter Klasse, und blicke neidvoll von unten hinauf, auf das Pantheon der Flurförderfahrzeugführer, auf die Götter auf dem Bock.

    0
    labern @feddit.de unterschichtblog @feddit.de
    Willkommen!

    Hier kann man einfach labern, vielleicht verirrt sich ja jemand hierher. Auf bald!

    0